Als Gregor Gysi im Oktober vergangenen Jahres mit seinen Parteikollegen Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch die „Aktion Silberlocke“ – mit dem Ziel, die Linke über ihre Direktmandate im Bundestag zu erhalten – ins Leben rief, war die Oppositions-Partei schon längst totgesagt. Doch die neuesten Wahlumfragen zeigen: Die Partei könnte es sogar ohne Direktmandate in den Bundestag schaffen. Das liegt jedoch nicht nur an den alten weißen Männern.
Ein Kommentar von Florian Ullmann
Ein Comeback, wie es im Buche steht. Kurz vor der Bundestagswahl ist die Linke wieder auf Erfolgskurs. Mitgliederrekord und Umfragewerte bei 5 Prozent – damit sogar über dem BSW. Es scheint, als hätten es die drei Veteranen geschafft, die Linkspartei vor dem Abgrund zu bewahren. Doch wer glaubt, dass der Umfrage-Erfolg nur Gysi & Co zuzuschreiben ist, liegt falsch. Die Linke hat verstanden, dass der Wahlkampf des 21. Jahrhunderts auch auf den sozialen Medien stattfindet und das funktioniert eben besonders gut mit charismatischen Persönlichkeiten. Dafür sind vor allem Reichinnek und Gysi eine hervorragende Wahl.
Auf TikTok geht Heidi Reichinnek durch die Decke. Ihre kämpferische Rede nach dem Dammbruch der Union wird millionenfach geklickt. „Sie haben dieses Land heute zum Schlechteren verändert“, wirft Reichinnek darin lautstark der Union unter Merz vor. Sie wirkt aufgebracht, emotional, wütend und dabei ist sie auch eines: verdammt authentisch.
Und das kommt nicht nur im Bundestag gut an, sondern ganz besonders bei jungen TikTok-Usern. Über 14 Millionen Likes konnte die junge Politikerin auf der Plattform verzeichnen. Tendenz steigend. Die Politikerin verkörpert als Co-Spitze einen Aufschwung, den die Partei nach Sarah Wagenknechts Abgang brauchte. Es ist mitunter ihr kampflustiges Auftreten in sozialen Netzwerken, welches die Linke aus ihrem Umfragetief holte. Bei 18- bis 29-Jährigen, zeigt eine Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL, sind sie mit 19 Prozent, neben den Grünen, im Moment sogar die beliebteste Partei.
Erfolgreiche Aussichten. Auch für Gysi, der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Direktmandat sichern kann. Sorgen haben dafür seine alten Mitstreiter Ramelow und Bartsch, denn beide haben in Umfragen keine Mehrheit in ihren Wahlkreisen. Scheitert die „Aktion Silberlocke“? Jein. Auch, wenn es nicht über die Direktmandate klappt, so ist es insbesondere die Präsenz der Partei-Ikone Gregor Gysi, die den Wahlkampf neben Heidi Reichinnek prägt. Der Sympathieträger wirkt vertrauenswürdig, muss sich nicht mehr beweisen. Zwar klickt sich Gysis ruhige Art auf TikTok nicht so gut wie Reichinnek, findet sich aber häufig auf linken Meme-Seiten wieder. Außerdem könnte er mit seinen „alten Hasen“ im Gegensatz zu der 36-Jährigen auch die älteren Bevölkerungsgruppen ansprechen, die traditionell weniger zur Linken tendieren. Wenn das einer schafft, dann Gysi. Nicht ohne Grund gewinnt der alteingesessene Politiker seit 20 Jahren seinen Wahlkreis Treptow-Köpenick in Berlin ohne Probleme.
Kurz vor der Bundestagswahl ist klar: Es wird wieder eine Zitterpartie. Dank einer souveränen Co-Parteivorsitzenden und eines altbewährten Veteranen scheint der Einzug in den Bundestag greifbar – doch ohne Direktmandate bleibt er alles andere als sicher. Trotzdem ist die Partei im Aufwind. Allein die Tatsache, dass sie wieder an der Fünf-Prozent-Hürde kratzt, wäre noch vor wenigen Monaten kaum denkbar gewesen. Für eine totgesprochene Partei sind das gar nicht mal so schlechte Aussichten.