CfP: Normativität in der qualitativen Forschung

Wir haben einen neuen CfP von Netzwerk für qualitative Forschung erhalten.

Fragen der Normativität, der Werte, Moral und Ethik werden in der Sozialforschung in jüngster Zeit wieder verstärkt aufgeworfen und verschärft diskutiert. Sei es, dass ganze For- schungsstränge wie die Gender Studies mit ihren konstruktivistischen Gesellschaftsbegrif- fen zu Zielscheiben von Fundamentalkritik werden, oder dass der qualitativen Sozialfor- schung insgesamt fehlende Replizierbarkeit oder gar mangelnde Evidenzbasierheit ihrer Zugänge, Einsichten und Schlüsse vorgehalten wird. So sehen sich aktuell weite Kreise der Geistes- und Sozialwissenschaften wissenschafts- und forschungspolitisch herausgefordert, die gesellschaftliche Relevanz und Akzeptanz ihrer Theorie- und Forschungsarbeit neu zu refektieren und erneut zu legitimieren. Zwar werden die Refexionen und Legitimationen noch vornehmlich von jenseits der Grenzen des eigenen Paradigmas angeregt und ange- stoßen. Doch die Entwicklungen machen es – wieder einmal – notwendig, den Stellenwert der eigenen theoretischen Positionen und die Geltung der eigenen methodischen Zugänge in Prozessen der Selbstver(un-)gewisserung aufzuwerfen und zur Diskussion zu stellen.

Sozialwissenschaftliche Forschungspraxis und Theoriebildung geschehen nie neutral und ‚objektiv’. Vielmehr sind sie in ‚subjektiven’ historischen und kulturellen Kontexten und Kon- stellationen situiert und werden unter den Eindrücken fachlicher und sozialer Wandlungs- prozesse fortwährend moduliert und transformiert. Auch wenn Fragen der Normativität nicht dauerhaft oder regelmäßig im Vordergrund der Aufmerksamkeit des Fachpublikums und der interessierten Öfentlichkeit stehen, haben konträre Perspektiven und durchaus strittige Debatten die Sozialwissenschaften mit konjunkturellen Schwankungen seit ihren Anfängen beständig begleitet. Etwa, wenn Max Weber mit dem Postulat der Werturteilsfrei- heit Anfang des 20. Jhdt. der empirischen Forschung eine normative Orientierung gibt und mit dem Positivismusstreit in den 1960ern die Frage nach Werturteilen in der empirischen Wissenschaft neu verhandelt wird. Oder wenn Mitte der 1990er Jahre – vornehmlich in den USA und angestoßen durch den Vorwurf des „elitären Aberglaubens“ (Gross/Levitt 1994) – in den sogenannten Science Wars ‚realistische‘ und ‚postmoderne‘ Positionen der wissen- schaftlichen Theoriebildung in Auseinandersetzungen um die Defnitionshoheit hinsichtlich Wahrheit, Objektivität und Urteilsfähigkeit aneinander geraten (vgl. Daston/Galison 2007).

Seither wird von der historisch-materialistischen Soziologie über die Systemtheorie bis zu den Cultural Studies über die normativen Gehalte sozialwissenschaftlicher Theoriebildung refektiert (vgl. Ahrens et al. 2008, 2011). Es stehen in der qualitativen, interpretativen oder rekonstruktiven Sozialforschung die impliziten und expliziten moralischen Einstellungen und ethischen Haltungen innerhalb und gegenüber sozialwissenschaftlichen Forschungsfel- dern in der Diskussion. Dabei erörtern einige Auseinandersetzungen nicht zuletzt den stets norm- und wertebasierten Anspruch, gesellschaftliche (Miss-)Verhältnisse aufdecken und systematisch Kritik üben zu können (vgl. Freikamp et al. 2008; Dege 2010).

Aktuell proklamiert schließlich die in Deutschland neu gegründete ‚Akademie für Soziologie‘ für sich, alle „konstruierten Wirklichkeiten“ mitsamt ihren „alternative Fakten“ abzuschüt- teln, um „in der Tradition der wissenschaftlichen Aufklärung nach faktenbasierten, prüfba- ren und dann auch praktisch verwertbaren Erkenntnissen zu streben“ (as 2017). Was hier mit Hilfe von Big Data-Analysen und „methodisch kontrollierten, qualitativen Fallanalysen“ gelingen will, spricht der qualitativen Forschung und dem interpretativen Paradigma insge- samt jegliche Kompetenz, jeglichen Anspruch und mithin jede Relevanz und Legitimität ab.

Mit dem Thema der Normativität ruft die Zeitschrift für Qualitative Forschung zu einer for- schungspolitischen Debatte auf. Die ZQF lädt dazu ein, auf die neuen Herausforderungen der qualitativen Forschung und der mit ihr verbundenen Theoriebildung zu reagieren: Fra- gen aufzugreifen und aufzuwerfen, Positionen zu identifzieren und zu markieren, Proble- me anzuzeigen sowie eine Sprache für aktuelle Herausforderungen der qualitativen For- schung zu fnden. Dabei können Aspekte der Normativität, der Werte, der Moral und Ethik in – zumindest – drei Richtungen angegangen und entfaltet werden.

1. Hinsichtlich der wiederentfachten Oppositionen zwischen quantitativen Verfahren einerseits und qualitativen, rekonstruktiven oder interpretativen und damit einhergehend bezüglich Pro- blemen der Positivität und Standardisierung von Forschungspraktiken hier und der Relativi- tät bzw. Situiertheit von Analyse, Wissen und Erkenntnis mit ihren Postulaten der Ofenheit, Kreativität und Kritik dort.

2. Betrefs Problemen der ‚Angemessenheit‘ von Re- oder Ko-Konstruktionen von gesellschaftli- cher Wirklichkeit und mithin nach der Eigenschaft von Forschungsgegenständen als ‚realen‘ oder ‚konstruierten‘ Phänomenen. Dies durchaus in Verbindung mit Refexion auf die Pro- zesse der Entscheidungsfndung darüber, welche methodischen Zugänge oder Verfahren für welche Problemstellungen und Erscheinungsformen von Wirklichkeitsprotokollen gewählt oder weiterentwickelt werden sollten. In diesem Zusammenhang die Frage, welche normative, wertende oder moralische und ethische Bedeutung es hat, ein Problem auf die eine oder andere Weise zu erforschen bzw. Datenmaterial zu generieren, zu analysieren und zu publizieren. Sollte es in der qualitativen Forschung darum gehen, etwas ‚sichtbar’ zu machen? Welche ‚Wertungen’ sind mit der Bestimmung eines Forschungsgegenstands ver- bunden? Und welche Normen implizieren die Konzepte und Begrife, mit denen ein ‚Gegen- stand’ ‚bestimmt’ wird?

3. In Bezug auf die wissenschaftlichen Bedingungen von ‚guter‘ und betrefend der gesell- schaftlichen Bedeutung von ‚freier‘ Wissenschaft. Was gewinnen, verteidigen, verlieren aufge- klärte, demokratische Gesellschaften durch kontroverse Debatten um die Unterschiede und Unvereinbarkeiten von sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen und Methoden? Damit ist das Problem der diskursfördernden (Studien- und Arbeits-)Bedingungen und der Organisation von Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen ebenso ange- sprochen, wie die Frage, ob qualitative Forschung an sich gesellschaftliche Kritik und politische Intervention ist, sein kann, oder ob sie auf einer anderen Klaviatur als der des öf- fentlichen Diskurses spielt.

Die Beiträge werden in einem double-blind peer-review Verfahren begutachtet und erschei- nen im ZQF-Schwerpunktheft 2/2019. Beitragsvorschläge sind bis zum 01.04.2019 er- wünscht. Bitte orientieren Sie sich an den Manuskriptregeln der ZQF (http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf) und wenden Sie sich für Nachfragen an redaktion@zqf-zeitschrift.de.

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