Offen für Interpretation:

Als eines der bekanntesten Ballett-Stücke, die es gibt, ist Tschaikowskys „Der Nussknacker“ von 1892 wahrscheinlich auf der bucket-list von vielen Tanz- und Theaterliebhabern. Wer jedoch die aktuelle Inszenierung des Staatstheaters Kassel, in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Tanzkollektiv „United Cowboys“ besucht, um diesen Klassiker einmal live zu erleben, sollte sich von dieser Inszenierung fernhalten.     
Dabei hätten die älteren Herrschaften, die das Stück noch während der Laufzeit immer wieder in Scharen verließen, nur mal die Info zum Stück auf der Homepage des Staatstheaters oder das Programmheft lesen müssen, das mehr oder weniger folgendes sagt:   
1892 war einmal! Der Nussknacker wird als Sinnbild seiner Epoche bearbeitet, um ihre patriarchalen, kolonialen und rassistischen Strukturen zu dekonstruieren und so dem Phänomen des „Canceln“ entgegenzustellen. Anstatt eines Aufführungstabus wird hier also gefordert, das Material aufzuführen, aber nicht als unreflektierte Märchenwelt, die für zwei Akte auf das Publikum einrieselt, sondern als eine Inspirationsquelle für eine Installation, der Nussknacker wird ein „Meme“, das es weiter zu bearbeiten gilt. Es sei hier also nochmal erwähnt, dass jeder, der alles, was er „moderne Kunst“ nennt, nicht ausstehen kann, in dieser Vorstellung ein Fisch im Trockenen sein wird, manch einer wird sogar entsetzt sein.       
Was ist aber mit den anderen? Mit denen, die in Kunst nicht nur als etwas sehen, was verstanden werden muss oder was einen berieselt, sondern primär als etwas, womit es zu arbeiten gilt, die in Kunst keine intellektuelle Gymnastik oder eine Rätselbox sehen, sondern einen Werkzeugkasten und Rohmaterial zugleich?
Naja, einige werden durchaus mit dem Stück arbeiten können, andere werden wenigstens den einen oder anderen ironischen Lacher daraus ziehen können. Aber was genau macht das Stück eigentlich zu dem, was es ist?        

Story
Wer schonmal etwas über die Handlung des Nussknackers in Erfahrung gebracht hat, wird schnell merken, dass man sich eher lose von der Story hat inspirieren lassen, anstatt sie wie eine Vorlage zu behandeln. Was von der Originalgeschichte übriggeblieben ist, wird in sein Gegenteil verkehrt. Es ist nicht der Nussknacker, der Clara letztendlich rettet, sondern Clara selbst, die den Mäusekönig eigenhändig erledigt. Das war auch schon alles, bei dem zumindest ich einen Zusammenhang zum Originalplot ausmachen konnte, der sich auch hauptsächlich im ersten der Zwei Akte vollzieht.       

Themen
Diese Inszenierung des Nussknackers ist vor allem eins: kritisch und selbstreferentiell. Beispielsweise werden Frauenrollen in klassischen Geschichten genauer beleuchtet, wie das Beispiel von Clara und dem Rattenkönig schon vermuten lässt. Neben diesem Thema befasst sich das Stück ausführlich mit dem Exotismus der Weltreise aus dem Originalstück, in welcher, ursprünglich dem russischen Adel, heute uns, Klischees der chinesischen und arabischen Kultur zur Belustigung vorgeführt werden.  
Außerdem legt das Stück auch etwas Selbstironie an den Tag. Zum einen dadurch, dass sich Tänzer und Bühnenbild wiederholt beim Publikum entschuldigen, zum anderen bei einer Parodie des klassischen Balletts, bei der die Tänzer:innen en pointe auf Walnüssen herumtanzen, sodass diese zerbersten. Das ist nicht nur eine sehr interessante Ästhetik, bei der die sonst so leichtfüßige Spitztanz-Technik überraschend brachial wird, sondern lässt sich auch als Kommentar zu dieser Technik auf zweierlei Art und Weise lesen:
Das Tanzen en pointe wird unter anderem dafür kritisiert, die Tänzerinnen in eine fragile, sowie wehrlose Position zu versetzen, in welcher sie in vielen Szenen abhängig vom Tänzer als stabiler Konterpart sind. Die Kraft, mit der die Tänzerinnen hier die Nüsse zertanzen, dekonstruiert diesen Sachverhalt.
Gleichzeitig reflektiert der paradoxe Spitzentanz hier Jahrhunderte an Ballettgeschichte, in denen Frauen mit den sehr engen Spitzenschuhen und ihrem gesamten Gewicht auf ihren Zehenspitzen teils minutenlang tanzen und laufen müssen. Wenn also die Walnüsse auf der Bühne en pointe zertrümmert werden, scheinen sich die Füße der Ballerinen an den Nüssen und dem Nussknacker zu rächen, während diese die Zerstörung des Fußes durch den Spitztanz widerspiegeln.       

Musik und Tanz    
In diesem Ballett wird man vor allem eins vermissen: das Orchester. Zumindest von meinem Platz aus (1. Loge Links) konnte ich kein Ensemble erspähen. Obwohl vereinzelt mindestens ein Cellist, eine Hornbläserin und irgendwo ein:e Violinist:in herumstehen müssten, konnte man diese außer in wenigen dezidierten Momenten nicht sehen. Das erklärt einerseits, wieso ein Großteil der orchestralen Musik nur aus Lautsprechern kam, andererseits ist es die Konsequenz dessen, dass die klassische Musik um ein breites Repertoire an technischen Spielereien erweitert wurde. Sounddesigner:innen dürften hier viel Spaß haben. Zwischen aggressiven Remixes der klassischen Stücke finden sich weite, atmosphärische Synthi-Landschaften und pulsierende, elektronische Sounds, welche den Tanz des Ensembles unterstützen.           
Dieser fällt zu einem Großteil sehr improvisiert und willkürlich aus. Dabei macht der Tanz jedoch seinen eigenen Rhythmus, indem chaotische Bilder mit viel Bewegung und skurrilen Kostümen in nicht weniger skurrile, choreografierte Bilder verlaufen. So oszilliert die Intensität der Energie auf der Bühne zwischen diesen beiden Extremen. In beiden Phasen ist der Tanz dominiert von befremdlichen Verrenkungen und Bewegungen, welche zwar nichts mehr mit dem zu tun haben dürften, was man geläufig als Tanz bezeichnen würde, aber nichtsdestotrotz körperlich einen unfassbaren Anspruch an die Tanzenden haben sowie eine eigenartig intensive Ästhetik erzeugen (An der Stelle sei erwähnt, dass ich biased bin, weil die Tänzer schon hot sind, yk?). Auch dabei oszillieren die Bühnensubjekte zwischen großer Distanz untereinander und intimer Nähe zueinander sowie zwischen individuellem und chorischem Tanz.   
Einen Moment gibt es dann aber doch, in dem, begleitet von einem Vioncello-Solo von Cornelius Schmaderer, zwei Tänzer:innen einen sehr innigen Paartanz aufführen, der zwischen dem ganzen konfusen Rest eine besondere ästhetische Schlagkraft hatte.           

Bühne und Kostüm         
Außer der „Hauptfigur“, die ich als eine Mischung aus Clara und Nussknacker interpretierte, wechseln die Tanzenden stetig ihre Kostüme, sodass sich nichts Bestimmtes darüber sagen lässt. Wobei es, besonders gegen Ende des Stückes, eine sehr extravagante Auswahl an verschiedenen Kleidern gibt, die doch sehr an einen Haute-Couture-Runway erinnern.    
Dasselbe lässt sich über das Bühnenbild sagen. Es gibt nur wenige Konstanten. Die hier, in Kassel wohl offensichtlichste, ist die Antipolis, das Gerüst auf der Bühne, das sowohl Platz für Zuschauende bietet, als auch mit verschiedenen Bildschirmen bestückt ist, auf denen mal gezeigt wird, was einzelne Bühnensubjekte gerade filmen und andere Male Text projizieren. Die Bildschirme werden durch große Projektionen jeweils zur linken und zur rechten Seite zum Publikum hin ergänzt, welche hauptsächlich durch Aufnahmen von Kastanien oder Blumen bestechen. Abgerundet wird das Bühnenbild dann also durch den riesigen Schriftzug „Fear Snow“ und die übergroßen Walnuss-Nachbildungen, die auf kreativsten Wegen von den Bühnensubjekten als Requisiten und als Stück Bühne dienen.
Das alles ist nur eine von sehr vielen möglichen Interpretationen. Mir ging es nur darum zu zeigen, auf was man sich hier einlässt und mit welcher Einstellung man an das Stück herangehen kann, um etwas Spaß dabei zu haben. Natürlich konnte auch ich mir einige Lacher über die schiere Absurdität des Stückes nicht verkneifen. Diese Lacher waren wahrscheinlich auch mehr der Grund dafür, dass ich das ganze Stück durch geblieben bin, als das Potential für die verschiedenen Interpretationen, dass mir erst durch eine Reflexion so wirklich bewusst geworden ist. Meine Begleitung zeigte sich durch die Absurdität belustigt, fand das Stück ansonsten aber schrecklich. Damit dürfte „The Nutcracker“ ebenso polarisieren wie zuletzt die Inszenierung der Zauberflöte.    

Wer sich selbst ein Bild machen möchte, hat noch am 14. Januar und dem 30. März die Gelegenheit dazu.

Foto: Sylwester Pawlicze


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