Sport ist Mord

Die laufende Inszenierung von „Ein Sportstück“ im hessischen Landestheater Marburg hätte zu keinem besseren Zeitpunkt starten können. Das Stück, indem die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek assoziativ Problematiken von Leistungssport über Hooligans zu Krieg und Rechtsextremismus verarbeitet, könnte nämlich nicht aktueller sein.

Wenn man als vernünftiger, patriotischer Österreicher den Namen „Elfriede Jelinek“ hört, läuft es einem wahrscheinlich kalt den Rücken runter. Mit „Ein Sportstück“, das 1998 seine Uraufführung im Wiener Burgtheater hatte, gibt die „Nestbeschmutzerin“ und Nobelpreisträgerin wieder einmal jedem Durchschnittsmann, der sich abends nichts weiter wünscht, als bei einem Bier „seine Mannschaft“ anzufeuern und dabei einen weiteren Tag in Lohnsklaverei zu vergessen, eine neue Provokation, die den ohnehin schon zu hohem Blutdruck, zu einem ungesehenen Maximum treibt.

Bei der aktuellen Inszenierung von Carola Unser-Leichtweiß im hessischen Landestheater Marburg ist es klar, dass es nicht gelingt die Opulenz von Einar Schleefs Uraufführung, mit ihrem 80-Personen starken Chor, zu erreichen. Nichtsdestotrotz entfaltet das Stück definitiv die Wirkung, die es haben soll.

Man betritt den Theatersaal. Das Erste, was man hört, ist das monotone Klicken einer Schreibmaschine hinter dem Vorhang. Am Anfang war das Wort, aber dem Wort muss natürlich die Letter vorausgehen. Alle sitzen, der Vorhang lüftet sich, er werde Licht.
Zentral für die Bühne ist die Projektionswand im Hintergrund. Davor steht eine Treppenkonstruktion, die die Bühne in verschiedene Ebenen aufteilt. Daneben ein hoher Schiedsrichterstuhl, wie er für Tennis üblich ist. Um und an ihm ist ein Konglomerat von Küchen- und Kriegsutensilien. Am Rand Banner, auf die Imperative und Werbung projiziert werden.  
Die Autorin oder besser, ihr dramaturgisches alter Ego Elfi Elektra (Fanny Holzer) sitz neben der stückeigenen DJ Rose Nylund auf der Treppe. Sie begrüßt das Publikum und beginnt, das Stück getreu Jelineks Material zu eröffnen:          
„Die Autorin gibt nicht viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt.“         
Zwar gibt die Autorin dann doch genug, um einen fünf-minütigen Monolog zu füllen, der allerdings im typisch-jelinek’schen, assoziativem Schreibstil, der von einem Wortspiel ins nächste gleitet. Monolog scheint jedoch das falsche Wort zu sein, da sich die Rolle der Elfi Elektra, noch in Elfi Elektraa (Lisa Grosche), Elfi Elektraaa (Ulrike Walther) und Elfi Elektraaaa (Sven Brormann) spaltet.     
Was danach passiert ist schwer zu beschreiben. Der Slogan, der das Stück implizit wie explizit begleitet; „Es gibt keine Handlung“. Tatsächlich ist Jelineks Stück ein Paradebeispiel für das, was man in der Theatertheorie „Material“ nennt; Gedankengänge, Textteppiche, Anregungen für Bühnenbild und Kostüm. “Das Einzige, was unbedingt sein muss, ist: griechische Chöre”.
Der gut 15-köpfige Chor setzt sich aus Personen mit diversem Hintergrund zusammen, sogar einige betagte Damen lassen sich in dem doch sehr agilen Kollektiv finden. Geführt wird der Chor mal von Faris Saleh, mal von Mia Wiederstein, manchmal auch von Anke Hoffmann oder Johanna Schwaiger. Der Rest geht in der Masse unter.          
Über die gut 165 Minuten Spielzeit wird man mit Text, Licht, Bildern, Nachrichten, Musik, Tanz, und Sportübertragungen und Nazi-Dokus bombardiert. Das Sportstück ist dabei körperlich tatsächlich ähnlich anstrengend, wie ein kleines Workout.        
Natürlich ist Sport zwar das Zentrum des Stückes, von da aus geschieht aber eine Entwicklung, die manchmal unvorhergesehen, manchmal naheliegend, aber immer nachvollziehbar ist. Vom Sport ist es zur Selbstoptimierung, die wesentlich für den momentanen Zeitgeist ist, nicht weit. Wenn man seinen Körper an seine Grenzen führt, kann man jedoch nicht immer stoppen, bevor man über die Grenze hinausschießt und ins Nichts fällt. Vom Draufgänger ist es nicht weit zum Draufgehen. Wie genau die Autorin und die Regisseurin die Grenzgänger darstellen, die letztlich wie ein übermütiger Seiltänzer auf den Boden stürzen, sei hier offengelassen.  
Neben der Selbstoptimierung, die dem Sporttreiben immanent ist, ist die nächste Grenze die das Sportstück verwischt, die zwischen Mannschaft und Truppe, „meinem Team“ und „meinem Land“. Dazu ein kurzer Exkurs in den historischen Kontext des Stückes.
Während im Osten Europas der Jugoslawienkrieg seinen Lauf nimmt, erstarkt in Österreich die rechtspopulistische FPÖ um Jörg Haider. Das Stück bietet so eine unfassbare Aktualität. Im Osten Europas herrscht heute erneut Krieg. In Deutschland, aber auch dem Rest Europas, erstarken rechtsextreme Kräfte. Auf scharfsinnige Art und Weise werden hier Parallelen zwischen Hooligans und Montagsspaziergängern gezogen. Die Mutter die ihren Sohn in den Krieg ziehen lässt, scheint wie eine Übertreibung der Mutter, die ihren Sohn an den Leistungssport „verliert“, der zeitaufwendig, wie selbstzerstörerisch sein kann.

Man kann diesem Stück wahrscheinlich nicht gerecht werden. Zum einen sieht man sich als Intendant vor einem literarischen Goliath, den es zu kürzen, umstrukturieren und bearbeiten gilt. Die Masse an Material lässt sich wohl kaum dramaturgisch, oder eher anti-dramaturgisch umsetzen. Wenn man über das Stück schreiben möchte, kann man gar nicht auf alle Aspekte eingehen, obwohl die Inszenierung bereits gekürzt ist. Das Stück wird mit seinem Fortschreiten immer selbstreferentieller und selbstreflexiver, es öffnet immer neue Dimensionen, auf denen es sich ausbreitet. 
Ich kann es also nur jedem ans Herz legen, die seltene Gelegenheit wahrzunehmen, sich dieses Meisterwerk anzuschauen. Obwohl die Inszenierung im Landestheater hier und da schwächelt und der kleine Cast dem Stück ab und zu ein Bein stellt, lohnt es sich gerade wegen der Aktualität in die nächste und vorerst letzte Aufführung am 25.01.2024 zu gehen.

von Hendrik Groß

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