Leerstand in Kassel: Eine Projektgruppe der Universität Kassel identifiziert leerstehenden Raum für bis zu 2400 potenzielle Wohnungen

Eine aktuelle Untersuchung des Fachgebiets „ARCHITEKTUR STADT ÖKONOMIE“ unter der Leitung von Prof. Gabu Heindl hat ergeben, dass in Kassel der Raum für bis zu 2400 potenzielle Wohnungen leer steht. Die Ergebnisse wurden am 18. April 2024 im Rahmen des SDG+ Lab (Labor für Nachhaltigkeitsfragen) unter dem Titel „Kassel steuert? Leerstand aktivieren!“ vorgestellt. Dieser Artikel beleuchtet, was uns der Leerstand kostet, welche Auswirkungen er auf das Stadtbild hat, welches Potenzial er für eine klimagerechte Stadt bietet – und warum in Kassel bisher kaum Maßnahmen dagegen ergriffen werden.

Leerstand in Kassel kostet uns nach Schätzung der Forscher:innen ca. 1,5 Milliarden Euro

Drei Semester lang haben sich Studierende der Universität Kassel auf die Suche nach Leerstand in der Stadt gemacht. Sie haben offensichtlich sichtbaren Leerstand erfasst, kartiert, Flächen geschätzt, die gesammelten Informationen in Geoinformationssystemen systematisiert und dann mit öffentlich verfügbaren Daten abgeglichen – und dabei einiges an leerer Hausfläche identifiziert. Das Ergebnis: In Kassel steht um die 220.000m2 oberirdische Bruttogeschossfläche (gesamte Hausfläche inkl. Außenwände) leer.

Unter den bis zu 400 identifizierten leerstehenden Objekten befindet sich auch großer, öffentlich bekannter Leerstand wie die Salzmannfabrik oder das ehemalige Polizeipräsidium. Laut Berechnungen des Teams könnten um die 67% dieser Fläche als Wohnraum dienen, was etwa 2400 Wohneinheiten mit einer durchschnittlichen Größe von ca. 60m2 entspräche. Für die Berechnung der Wohnfläche wurden u.a. die Außenwände und Schächte wieder von der Bruttogeschossfläche abgezogen (siehe Abbildung). Würde man davon ausgehen, dass in jeder Wohnung dieser Größe ca. zwei Personen leben könnten, so könnte eine Aktivierung des Wohnraums Platz für 4800 Menschen schaffen.

Wie das Wohnraumpotential errechnet wurde. Quelle: Präsentation der SDG+ Projektgruppe

Laut Prof. Heindl kostet uns der Leerstand vor allem Infrastrukturkosten. Für Kassel schätzt das Team um die Professorin im Rahmen der SDG+ Projektgruppe die jährlichen Infrastrukturkosten durch Leerstand konservativ gerechnet auf 1,5 Milliarden Euro.

In Kassel fehlt zunehmend (bezahlbarer) Wohnraum

Das Wohnraumversorgungskonzept von 2022, das die konzeptionelle Grundlage für die Wohnungspolitik der Stadt Kassel in den kommenden zehn Jahre bilden soll, geht von einem Neubaubedarf von 800 Wohnungen pro Jahr aus. Zudem sind in den letzten Jahren die Mieten gestiegen – auch weil der Neubau nicht mit der gestiegenen Nachfrage nach Wohnraum mithalten konnte. Insbesondere für einkommensschwache Haushalte, für Alleinerziehende, ältere Single-Haushalte und Familien hat sich die Versorgung mit Wohnraum verschlechtert. Offensichtlich fehlt es der Stadt an bezahlbarem Wohnraum – wie kann es dann sein, dass es in einer Stadt wie Kassel überhaupt Leerstand gibt?

Eine gewisse Quote sei „im Rahmen der Fluktuationsreserve erforderlich“, sagt die Stadt. Sie verweist darauf, dass die Leerstandsquote auf dem Kasseler Wohnungsmarkt laut Untersuchungen vom Institut für Wohnen und Umwelt und empirica im Jahr 2023 bei 2,2% lag. Dies sei im Vergleich zu anderen Städten gering. Hinweise über Leerstände seien wichtig, „generieren für sich jedoch keine neuen Wohn- oder Geschäftsräume“ kommentiert die Stadt Kassel die Befunde der Projektgruppe auf Nachfrage. Vielmehr zeige sich, dass aktives Handeln der Stadtverwaltung zur Aktivierung dieser Potenziale zwingend notwendig sei.

Foto: Antonia Haberberger

Leerstand kann bei Klimazielen helfen

Die Aktivierung von Leerstand könnte auch dazu beitragen, die städtischen Klimaschutzziele zu erreichen. Der Kasseler Klimaschutzrat, der der die Stadt auf dem Weg zur Klimaneutralität 2030 berät, empfiehlt daher, „nicht noch mehr Böden“ zu versiegeln. Ein hoher Versiegelungsgrad ist mitverantwortlich für extreme Hitze in den Innenstädten und erhöht auch das Risiko von Hochwasser und Überschwemmungen durch Starkregenereignisse. Ganz zu schweigen von den Ressourcen und den Emissionen, die eine Neubebauung mit sich bringt. Der Klimaschutzrat empfiehlt ein „Kataster der Potenziale“, also eine Art Verzeichnis untergenutzter Grundstücke. Ein Blick auf den Umsetzungsstand der Maßnahmenempfehlungen (Stand: 20.02.2024) zeigt, dass die Stadt Kassel noch keine entsprechenden Aktivitäten dazu ergriffen hat. Auf Nachfrage teilt die Stadt mit, dass das Kataster, wie jede empfohlene Maßnahme „derzeit durch eine interne Arbeitsgruppe auf die Anwendbarkeit/Umsetzbarkeit geprüft“ würde. Die Stadt würde jedoch „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ personelle Ressourcen für ein sogenanntes „Innenentwicklungsmanagement“ schaffen. Ein solches Managementkonzept ziele darauf ab, verschiedene Potenziale zu erheben, ihre Eignung und Mobilisierbarkeit zu prüfen und proaktiv auf Grundstückseigentümer:innen zuzugehen. Den genauen Zeitpunkt, zu dem die personellen Ressourcen geschaffen werden, nennt die Stadt nicht.

Fazit: In Hessen fehlen rechtliche Grundlagen, um gegen Leerstand vorzugehen

Wie lässt sich also gegen den Leerstand vorgehen? Eine Idee ist eine „Leerstandssteuer“, die auch kommunal etabliert werden könnte – die gibt es aber in Deutschland noch nicht. In Österreich ist dahingegen „Leerstandsabgabe“ schon länger Praxis, beispielsweise in Salzburg, der Steiermark und Tirol.

Vielversprechender ist ein sogenanntes „Zweckentfremdungsgesetz“. Es verbietet die Zweckentfremdung von Wohnraum, worunter auch längerfristiger Leerstand fällt. In Niedersachsen ist ein solches Gesetz beispielsweise in Kraft. Unsere Nachbarstadt Göttingen hat deshalb eine Satzung, nach der „Wohnraum nur mit Genehmigung der Stadt Göttingen anderen als Wohnzwecken zugeführt werden [darf]“. Leerstehender Wohnraum kann durch die Bürger:innen auf der Website der Stadt sogar gemeldet werden. Auch in Hessen gab es einmal ein solches Gesetz, das wurde aber 2004 mit dem Ziel der Deregulierung des Wohnungsmarktes unter der CDU außer Kraft gesetzt.

Auf die Abwesenheit des Zweckentfremdungsgesetzes beruft sich auch die Stadt Kassel, als sie auf die Frage nach Handlungsmöglichkeiten gegen Leerstand antwortet: „Da (…) es seit diesem Zeitpunkt zu diesem Thema keine gesetzlichen Regelungen mehr gibt, fehlt es an der rechtlichen Grundlage, Geldstrafen anzudrohen oder durchzusetzen.“

Neue Impulse will anscheinend der Wohnungsbauminister Kaweh Mansoori (SPD) setzen, der noch in diesem Jahr ein Gesetz gegen spekulativen Leerstand auf den Weg bringen will. Nähere Informationen sind dazu leider noch nicht bekannt.

Prof. Heindl sieht nun vor allem die Notwendigkeit, dass die Stadtplanungspolitik und das Land Hessen aktiv werden. Sie hofft, dass die Ergebnisse „alle Beteiligten dazu bringen, alles zu tun, um schon bestehenden Raum zu nutzen, bevor Neuer errichtet werden muss.“

Text von Antonia Haberberger

Anmerkung: Der Text erschien in der Printausgabe der Studierendenzeitung DAS ORGAN im Juni 2024 (Ausgabe 5)

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