Ein Witz ohne Pointe

Patient Zero im Staatstheater Kassel

Patient Zero ist ein kleines Stück mit einem großen Anspruch. Worin dieser Anspruch besteht und ob Patient Zero diesem gerecht wird, erfährt man im Folgenden

Wir haben irgendwann im Winter 2022. Ich sitze in einem Wartezimmer von der AIDS-Hilfe in Kassel, warte angespannt auf mein Testergebnis und lese Foucaults Ästhetik der Existenz. Ironisch, so ist es doch gerade dieser eine der größten Philosophen des 21. Jahrhunderts, der nicht nur mein Denken maßgeblich beeinflusst hat, er ist leider auch ein Beispiel dafür, wieso man sich besonders als schwuler Mann (als alles andere auch!) regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten testen sollte.

Für Foucault war die Lage aussichtslos. In einer Zeit, in der Aids noch nicht behandelbar war, blieb ihm womöglich nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu hoffen. Oder den Freitod. Vielleicht ist es deswegen, wieso Foucault besonders gegen Ende seines Lebens für eine De-Stigmatisierung des Freitods eintrat. Leider konnte er womöglich nicht so sterben, wie er oder irgendjemand sonst, sich seinen Tod gewünscht hatte. Ausgemagert und schwach fiel Foucault 1984 eines Tages in Ohnmacht. Kurz darauf verstarb er im Hôpital de la Salpêtrière. Das wiederum bewegte seinen langjährigen Lebenspartner Daniel Defert dazu, die erste landesweite HIV-Organisation „AIDES“ zu gründen. Der Theoretiker von der unterdrückerischen Macht der Sprache, der ausgerechnet 1984 in dem Krankenhaus starb, dass er in seinem ersten Hauptwerk noch kritisierte, teilt damit dasselbe, schon fast stereotype, Schicksal, wie so viele aus unserer Community. All diesen und noch vielen mehr, denjenigen die nicht mehr Sprechen können, den Infizierten und Verreckten, „für die Corona eben nicht die erste Pandemie war“, aber auch für uns Schlampen und Arschfickern, uns Sodomiten und Perverse, aber auch für euch, ihr Kurzatmigen, Masken-Tragenden, euch Paranoiden und Fahrlässigen, möchte Marcus Peter Teschs „Patient Zero 1“ sprechen.

Tesch möchte einen „Witz ohne Pointe“ erzählen. Ein Witz, der in Kassel von Sarah Kohm inszeniert wurde. Die Stimmen und Körper leihen ihm dafür die Dragqueen Reflektra, Annalena Haering, Marius Bistritzky und Jonathan Stolze. Das Setting, eine Einzimmerwohnung in Cottbus(?), wurde dafür liebevoll von Sibylle Pfeiffer und Maria Walter gestaltet. Musikalisch wird das ganze untermalt von Leonardo Mockridge. Was aber macht diesen Witz zu einem Witz ohne Pointe?

Das Programmheft möchte mir sagen, witzlos, weil die ganze Situation, HIV wie Corona, eigentlich gar nicht witzig ist. Meine Augen sagen mir aber, weil das Stück verzweifelt versucht, fehlende Substanz mit schlechten Witzen aufzufüllen.

Man verstehe mich nicht falsch – Meine Vorfreude auf das Stück war groß. Das Thema schien mir sowohl aus soziologischer Sicht interessant, persönlich geht es mir einfach nahe. Man verstehe mich nicht falsch – das Bühnenbild ist wirklich süß und Haering, Reflektra und besonders Bistritzky sind wunderbare Schauspieler.

Aber – In den eineinhalb Stunden Vorführung wurde für vielleicht fünf Minuten am Anfang und sehr sporadisch mitten drinnen das Thema behandelt. Der Rest bestand aus Witzen darüber, dass die Tod pissen muss und die Tod will ein Rauchen und „haha der Bistritzky spielt ja so eine Klischee-Schwuchtel“, sodass weder Stolzes eindrucksvolle Durchmoderation noch Reflektras beeindruckende Performance am Ende die überwiegende Substanzlosigkeit des Stückes ausgleichen können. Vielleicht ist Substanzlosigkeit jedoch nicht ganz das richtige Wort, denn obwohl sich die eineinhalb Stunden definitiv mehr angefühlt haben, hatte ich nicht einmal das Bedürfnis nach ner Raucherpause, schließlich hat der Passivrauch von den echten Kippen auf der Bühne, die echt geraucht wurden, mich ausreichend mit Nikotin versorgt.

Alles in allem hat „Patient Zero 1“ ein wichtiges und nahegehendes Thema und ich weiß nicht, ob es am Stoff Teschs oder an der Inszenierung Kohms lag, genauso wenig möchte ich verkennen, dass die Hintergrundrecherchen sehr aufwendig waren, aber das und die größtenteils starke Besetzung bedeuten umso mehr, dass hier einfach unfassbar viel Potenzial liegen gelassen wurde und das ist furchtbar schade.

Wer sich selbst ein Bild machen möchte, hat an folgenden Terminen noch die Möglichkeit dazu:

16.03.

18.04.

26.04.

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